9/2023 – Unter welchen Voraussetzungen ist ein Abweichen von den technischen Baubestimmungen beim Bauen im Bestand möglich?

Bei der energetischen Sanierung im Gebäudebestand lassen sich oftmals baurechtlich eingeführte Technische Baustimmungen nicht einhalten. Wie man als Planer bzw. ausführendes Unternehmen in diesem Spannungsfeld handeln kann, soll an Hand eines Beispiels erläutert werden.

Beispiel

Bei der geplanten energetischen Sanierung eines historischen Fachwerksgebäudes stellt sich heraus, dass die nach Westen orientierte Fassade mit maximal 2 cm Dämmstoff der Wärmeleitfähigkeitsgruppe WLG 040 (entspricht einem zusätzlich eingebrachten Wärmedurchlasswiderstand von R = 0,5 mK/W) innenseitig gedämmt werden darf, damit auftreffender Schlagregen ausreichend schnell abtrocknen kann. Für dieses Bauprojekt wäre der Mindestwärmeschutz nach der baurechtlich eingeführten Norm DIN 4108-2:2013-02 (Mindestanforderungen an den Wärmeschutz) nicht erfüllt, jedoch könnte eine höhere Dämmstoffdicke langfristig die Standsicherheit des Gebäudes beschädigen und somit zur Zerstörung des Gebäudes führen.

Frage

Die wichtige Frage für den Planer ist nun: Welcher technische Standard ist bauordnungsrechtlich einzuhalten, wenn die Anwendung der „Neubauregeln“ vorhersehbar zu einer Risikoerhöhung oder gar einem Bauschaden führt? Welche planerischen Handlungsoptionen bestehen? Wie ist praktisch vorzugehen? 

Antwort

Die Antwort ergibt sich aus dem Bauordnungsrecht und lautet: Ja, man kann – ggf. muss man sogar – von den eingeführten Technischen Baubestimmungen abweichen.

Rechtliche Grundlage

Denn nach § 85a Abs. 1. S. 3 MBO gilt: „Von den in den Technischen Baubestimmungen enthaltenen Planungs-, Bemessungs- und Ausführungsregelungen kann abgewichen werden, wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die Anforderungen [Anm. der Verf.: nach § 3 MBO] erfüllt werden und in der Technischen Baubestimmung eine Abweichung nicht ausgeschlossen ist.“ Nach § 3 MBO sind Anlagen so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instand zu halten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit und die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden (§ 3 Abs. 1 MBO).

Technische Umsetzung 

Das eigentliche Schutzziel des hygienischen Mindestwärmeschutzes ist der Schutz der Bewohner und Nutzer von Gebäuden vor Schimmelpilz und den gesundheitlichen Gefahren, die von dieser Belastung ausgeht.

Die Einhaltung einer Mindestoberflächentemperatur nach DIN 4108-2 stellt bei normaler Wohnraumnutzung sicher, dass die relative Feuchte an den inneren Oberflächen auch langfristig so niedrig ist, dass eine Schimmelpilzbelastung ausgeschlossen werden kann. 

Das bedeutet, dass die Sicherstellung einer Mindestoberflächentemperatur von > 12,6°C hier der von der Norm gewählte Weg zum Ziel der Schimmelpilzfreiheit ist. Ist diese Lösung wie im oben beschriebenen Beispiel nicht möglich, so könnte die Wohnraumhygiene auch durch ein besonderes Lüftungs- bzw. Nutzungskonzept sichergestellt werden. Ebenso sind weiterreichende technische Ansätze (wie beispielsweise Temperaturleitbleche in Wärmebrücken oder an Holzbalkenköpfen oder die aktive Beheizung einer Wärmebrücke) Lösungen, die die hygienischen Mindestanforderungen sicherstellen können.

Sind wie in dem beschriebenen Beispiel in diesem Zusammenhang unterschiedliche technische Lösungen zur Schutzzielerreichung möglich, gelten die allgemeinen Anforderungen an Aufklärung und Beratung. Sofern für die Lösung der Planungs-/ Bauaufgabe „fortdauernd praxisbewährte“ Verfahrensweisen existieren, sind diese als aRdT selbstredend zu beachten.

Praktische Umsetzung 

Der Sachverständige bzw. Planer hat einerseits die Nichtanwendbarkeit der aktuellen Norm zu erkennen, hat jedoch andererseits den Nachweis zu erbringen, wie er die gesetzlich vorgeschriebene und geschuldete Qualität der Baumaßnahme sicherstellt (im vorgestellten Beispiel also die Schimmelpilzfreiheit). Hierzu müssen der Planer und der Auftraggeber gemeinsam das Vorgehen erörtern und vereinbaren.

Hilfestellungen können Richtlinien und Merkblätter anerkannter Organisationen wie beispielswiese die Wissenschaftlich-Technische Arbeitsgemeinschaft für Bauwerkserhaltung und Denkmalpflege e.V. (WTA) bieten, die die Ansprüche an eine aRdT erfüllen.

Fazit

Der Planer muss im vorgestellten Beispiel von den eingeführten Technischen Baubestimmungen abweichen, da ansonsten das bauordnungsrechtliche Schutzziel nicht sichergestellt und daher zugleich auch der geschuldete Erfolg eines mangelfreien, funktionstüchtigen Bauwerks nicht gewährleistet ist. 

Aus bauordnungsrechtlicher und vertragsrechtlicher Sicht ist es daher allein geboten, sich mit dem Auftraggeber über den – in Abweichung von den Technischen Baubestimmungen – technisch machbaren „Weg zum Ziel“ zu vereinbaren. Es handelt sich um die vertragliche Konkretisierung bzw. Beschaffenheitsvereinbarung über eine technisch geeignete Verfahrensweise in Bezug auf die konkrete Situation.

Weitere Hinweise können dem Praxishandbuch Innendämmung, 2. Auflage, Erscheinungstermin Oktober 2023 entnommen werden.

Literaturangaben

DIN 4108-2:2013-02: Wärmeschutz im Hochbau – Teil 2: Mindestanforderung an den Wärmeschutz, Beuth-Verlag Berlin 2013

MBO – Musterbauordnung – MBO – Fassung vom November 2002, zuletzt geändert durch Beschluss der Bauministerkonferenz vom 22./23. 09.2022Hrsg. FVID: Praxishandbuch Innendämmung, 2. Auflage, Rudolf Müller Verlag Köln Oktober 2023 j

Bearbeitung

Dr. Anatol Worch, Bauphysik Worch, Leiter der WTA-Arbeitsgruppe „Innendämmung“, Vorsitzender des FVID
RAin Elke Schmitz, Kanzlei Schmitz, Bremen

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