BGH-Urteil V ZR 115/20 zur grenzüberschreitenden Wärmedämmung

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 12.11.2021 eine Entscheidung in einem Rechtsstreit zwischen Eigentümern benachbarter Grundstücke in Nordrhein-Westfalen, die jeweils mit vermieteten Mehrfamilienhäusern bebaut sind, verkündet. Die Giebelwand des Bestandsgebäudes der Klägerin steht direkt an der gemeinsamen Grundstücksgrenze, während das Gebäude der Beklagten etwa 5 Meter von der Grenze entfernt ist. Die Klägerin ließ eine grenzüberschreitende Außendämmung der Giebelwand aufbringen und verlangte von den Beklagten die Duldung dieser Maßnahme gemäß § 23a NachbG NW. Die Beklagten lehnten dies ab.

§ 23a Abs. 1 Satz 1 NachbarG NW sieht vor, dass Eigentümer*innen eines Grundstücks die Überbauung des Grundstücks aufgrund von Maßnahmen, die an bestehenden Gebäuden für Zwecke der Wärmedämmung vorgenommen werden, zu dulden haben, wenn diese über die Bauteileanforderungen in der Energieeinsparverordnung vom 24. Juli 2007 (BGBl. I S. 1519), geändert durch Verordnung vom 29. April 2009 (BGBl. I S. 954), nicht hinausgeht, eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann und die Überbauung die Benutzung des Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Eine wesentliche Beeinträchtigung ist gemäß § 23a Abs. 1 Satz 2 NachbarG NW insbesondere dann anzunehmen, wenn die Überbauung die Grenze zum Nachbargrundstück in der Tiefe um mehr als 0,25 m überschreitet.

Da die oben genannten Kriterien erfüllt waren und die Einschätzung eines Sachverständigen ergab, dass eine Innendämmung der Giebelwand nicht mit vertretbarem Aufwand vorgenommen werden kann, hat der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nun final die Argumentation der Klägerin bestätigt (siehe hierzu BGH-Pressemitteilung 210/21).

Das Nachbarrecht des Bundes regelt in § 912 BGB, unter welchen Voraussetzungen ein rechtswidriger Überbau auf das Nachbargrundstück im Zusammenhang mit der Errichtung eines Gebäudes geduldet werden muss. Ein in Art. 124 EGBGB enthaltene Regelungsvorbehalt erlaubt jedoch den Erlass neuer landesgesetzlicher Vorschriften, welche das Eigentum an Grundstücken zugunsten der Nachbarn noch „anderen“ als den im BGB bestimmten Beschränkungen unterwerfen. Die Frage, wann eine „andere“ Beschränkung vorliegt, so dass die Gesetzgebungskompetenz der Länder besteht, lässt sich, wie der BGH nun grundsätzlich geklärt hat, nur auf der Grundlage einer vergleichenden Gesamtwürdigung der bundes- und landesrechtlichen Regelungen bestimmen. Das Landesrecht darf Beschränkungen vorsehen, die dieselbe Rechtsfolge wie eine vergleichbare nachbarrechtliche Regelung des Bundes anordnen, aber an einen anderen Tatbestand anknüpfen und einem anderen Regelungszweck dienen; allerdings muss dabei die Grundkonzeption des Bundesgesetzes gewahrt bleiben. Daran gemessen sind die landesrechtlichen Regelungen zur nachträglichen Wärmedämmung als „andere“ Beschränkung anzusehen, so dass die Gesetzgebungskompetenz der Länder gegeben ist.

Das Überbaurecht des § 912 BGB soll die Zerstörung wirtschaftlicher Werte verhindern, und zwar nicht nur im individuellen Interesse des Überbauenden, sondern auch im volkswirtschaftlichen Interesse. Die Beseitigung eines versehentlichen Überbaus bei der Errichtung eines Gebäudes lässt sich häufig nicht auf den überbauten Teil beschränken und soll nicht den Abriss eines Gebäudes bzw. Gebäudeteils nach sich ziehen. Dagegen geht es bei den Regelungen zur nachträglichen Wärmedämmung nicht darum, ob im Nachhinein ein Abriss erfolgen soll oder nicht. Sie setzen früher an und sollen dem Grundstückseigentümer von vornherein einen bewussten und geplanten Überbau zu dem spezifischen Zweck der nachträglichen energetischen Gebäudesanierung ermöglichen, wenn die Grenzbebauung die Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks erforderlich macht. Damit werden ebenfalls öffentliche Interessen verfolgt, aber andere als im Rahmen des § 912 BGB. Dazu gehört die energetische Gebäudesanierung, die zur Energieeinsparung führen soll, die schon wegen der nunmehr durch das Klimaschutzgesetz vorgegebenen Verminderung von Treibhausgasemissionen im allgemeinen Interesse liegt.

Bei der für die Energiewenden erforderlichen energetischen Sanierungsrate sind in Zukunft ähnliche Situationen zu erwarten. Dann muss geklärt werden, unter welchen Bedingungen eine 1.) vergleichbare Wärmedämmung auf 2.) andere Weise mit 3.) vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann – wie zum Beispiel eine Innendämmung. Zur Bewertung kann man zunächst im 1. Schritt den Anforderungswert für den Wärmedurchgangskoeffizienten der nachträglich gedämmten Außenwand zugrunde legen. Nach EnEV 2009 war für Wohngebäude und Zonen von Nichtwohngebäuden mit Innentemperaturen > 19 °C ein maximaler U-Wert von 0,24 W/(m2K) gefordert. Bei raumseitigen Wärmedämmungen (Innendämmung) musste abweichend davon nur ein Wert von U = 0,35 W/(m2K) eingehalten werden; nach aktuellem GEG werden außer dem Mindestwärmeschutz derzeit keine expliziten U-Wert-Anforderungen gestellt. Unabhängig von der energetischen Qualität der Außenwand war diese Anforderung grundsätzlich bereits mit einem Wärmedurchlasswiderstand der Innendämmung R = 2,5 m2K/W zu erreichen! Dieser Grenzwert deckt das vereinfachte Nachweisverfahren für Innendämmung nach WTA-Merkblatt 6-4 (2009, aktualisiert 2016) für saugende Untergründe ab. Mit 10 cm Innendämmung einer Wärmeleitfähigkeit von 0,04 W/mK hätte somit die damalige EnEV-Anforderung für die Giebelwand, um die es in dem Rechtsstreit ging, eingehalten werden können.

Um U = 0,24 W/(m2K) mit einer Innendämmung zu erreichen, würde man einen Wärmedurchlasswiderstand – je nach Qualität der Bestandsaußenwand – von durchschnittlich ca. 3,5 m2K/W benötigen, also etwa 14 cm Dämmstoffdicke mit  = 0,04 W/mK. In diesem Fall wäre der feuchtetechnische Nachweis nach WTA-Merkblatt 6-4 zwingend mit einer hygrothermischen Simulationsrechnung zu erbringen und die Anschlusssituation angrenzender Bauteile rechnerisch genau zu überprüfen. Neben dem Planungsmehraufwand steigt auch die Anforderung an die Ausführungssorgfalt. Dies gilt es jedoch in jedem Fall auch bei Außenwärmedämmungen zu beachten! Zahlreiche Schadensfälle in der Praxis zeigen allerdings, dass bei falsch geplanten oder fehlerhaft aufgebrachten Dämmsystemen im Außenbereich die tatsächliche Lebensdauer die geplante Lebensdauer deutlich unterschreitet. Eine dauerhafte energetische Sanierung im Rahmen des oben genannten „öffentlichen Interesses“ ist somit dann nicht gegeben!

Weiterhin muss bei der Bewertung der Vergleichbarkeit energetischer Sanierungsmaßnahmen berücksichtigt werden, dass nicht immer einzelne Bauteile der Gebäudehülle betrachtet werden, wie zum Beispiel eine Außenwand. Wenn man eine Förderung von Einzelmaßnahmen nach BEG in Anspruch nehmen möchte, dann ist dies sicherlich der Fall. Wenn jedoch ganze Gebäude energetisch saniert werden sollen zu Effizienzhäusern bzw. Effizienzgebäuden, dann wird nicht das Bauteilverfahren angewandt, sondern das Bilanzverfahren, bei dem bestimmte energetische Kennwerte für das gesamte Gebäude eingehalten werden müssen. Dabei kann es durchaus möglich sein, bei einer einzelnen Außenwand wie zum Beispiel an einer gemeinsamen Grundstücksgrenze die energetische Verbesserung mit einer Innendämmung etwas „schwächer“ auszuführen und mit anderen Bauteilen und der Anlagentechnik dieses „Defizit“ zu kompensieren. Die Bewertung darf dann nicht ausschließlich auf die vergleichbare Wärmedämmung (eines Bauteils) auf andere Weise fokussieren!

Bleibt noch die Frage zu klären, welcher Mehraufwand für eine andere Art der Dämmung noch „vertretbar“ ist. Im Laufe der letzten Jahre, insbesondere durch Mitwirkung des Fachverbands Innendämmung (FVID) e.V., hat sich gezeigt, dass Innendämmsysteme mit erhöhten Dämmstoffdicken bei Betrachtung der jeweiligen Vollkosten ohne Weiteres in einem vergleichbaren „Kostenfenster“ wie Außendämmsysteme verarbeitet werden können. Ökonomische Vorteile von Innendämmungen, die sich auf die Lebenszykluskosten auswirken können, wie zum Beispiel die deutliche geringere Aufheizzeit von temporär genutzten Gebäuden, der nahezu witterungsunabhängige Einbau oder die Möglichkeit der Teildämmung von Außenwänden sind dabei noch gar nicht eingerechnet!

Fazit: Innendämmung kann durchaus eine mit Außendämmung „vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand“ sein. Wichtig dabei ist zum einen, die technische Vergleichbarkeit nicht nur auf das zu dämmende Bauteil zu konzentrieren, sondern das Gebäude insgesamt zu betrachten. Zum anderen sollten für die Aufwandsbewertung verschiedener Dämmarten nicht allein die Investitionskosten zugrunde gelegt werden, sondern die Lebenszykluskosten. Ein Umdenken in der finanziellen Bewertung energetischer Sanierungsmaßnahmen ist dringend erforderlich. Innendämmung ist eben entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu betrachten!

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